Nach dem Abschluss einer Unterrichtseinheit zum Thema Kurzprosa erhielten die Schülerinnen und Schüler im Leistungsfach Deutsch 2 den Auftrag, vor dem Hintergrund des im Unterricht Erarbeiteten, selbst eine kurze Erzählung zu verfassen.
Im Folgenden finden Sie die von den Schülerinnen und Schülern selbst ausgewählten besten Geschichten.
Viel Freude beim Lesen!
Herbsttag
Ich stehe inmitten eines Waldes – braune, orangene und gelbe Blätter auf dem Boden. Das Rascheln der Blätter unter meinen Stiefeln begleitet meine Gedanken.
Die kühle Brise träg den erdigen Duft zu mir, während ich mich an gute alte Zeiten erinnere – Bruchstücke, wie Notizen, schwirren im Kopf herum.
„Ruka, mein Bruder, hat demnächst seine Hochzeit, da muss ich hin.“
Meine Gedanken schweifen jedoch ab, denken über andere Sachen nach: „Was hat dieser Wald denn schon alles gesehen?“, sage ich zu mir selbst, als ich die uralten Bäume um mich herum betrachte.
„Ein ewiger, ungebrochener Zyklus: leben, sterben, nichts anderes“, denke ich, als ich die Rinde von einem der Bäume über meine Finger gleiten lasse, dann weitergehe.
Ein Kranich fliegt über meinen Kopf hinweg und ich komme nicht umhin, dessen Anmut und Freiheit zu bewundern.
Plötzlich höre ich ein leises Grollen in der Ferne und spüre den Drang, dorthin zu gehen. Schließlich, nach einer kurzen Weile, erreiche ich dieses Geräusch.
Meine Augen öffnen sich und die Szenerie verwandelt sich augenblicklich von der natürlichen Schönheit des Waldes in eine verlassene Fabrik.
Das Turbinengeräusch wird immer lauter, das Quietschen der drehenden Lampen und das Heulen des Windes dröhnen in meinen Ohren.
Ich finde mich selbst wieder, vor einer Leiche, die vor mir, sitzend, angelehnt gegen eine Wand ruht.
Ich bemerke eine Notiz in meiner Hand, die von dem toten Mann unterschrieben worden ist – „Kaizi“.
Ich lege die alten Blätter wieder in die Tasche von „Kaizi“, als ich ein letztes Mal auf ihn blicke und schnell diesen Raum verlasse und ihn dort liegenlasse.
D.S.
Ein Herbsttag
Es ist September. Uno läuft durch den Wald, wie er es häufiger tut. Gar pausenlos beschäftigt er sich mit ihm. Täglich, stündlich, minütlich. Es ist seine Aufgabe, dies zu tun. Deshalb existiert er. Ohne den Wald wäre seine Existenz gar unmöglich. Mit seinen 193 Augen blickt Uno in den Wald hinein. So schön hat er ihn sich nicht vorgestellt. Die Vielfalt der dortigen über 240 verschiedenen Baumarten löst in ihm Glücksgefühle aus. Es lassen sich alle möglichen Arten von Bäumen erspähen. Manche Bäume sind groß und beheimaten viele Tiere. Andere sind kaum mehr als kleine Sträucher. Nur wenig Leben findet auf ihnen Platz, doch auch sie kämpfen um ihr Dasein. Manche Bäume sind völlig überfüllt mit Leben, andere sind fast leer. Manche Bäume sind schneebedeckt, andere glühen in der Hitze. Manche Bäume sind durchnässt, andere sind staubtrocken. All diese Bäume glänzen jedoch in einem gesunden und reinen Grün. Nebeneinander stehen sie. Dabei teilen sie sich alle Nährstoffe, die der Boden bietet. Sie berühren sich, sie überschneiden sich, und das Leben wandert von Blatt zu Blatt, von Zweig zu Zweig, von Ast zu Ast und von Baum zu Baum. Uno erfreut sich an dem Leben, das aus all den Bäumen sprießt. Er läuft weiter und erblickt den mit Abstand größten Baum im Wald, auf dessen schneebedeckter lebensfeindlichen Spitze seit langer Zeit ein großer, furchteinflößender Bär thront. Unmittelbar südlich davon entdeckt er einen Weg in einen anderen Teil des Waldes. Uno realisiert, dass dieser Wald aus Arganbäumen und Aspen besteht, wobei die Aspen etwas häufiger vorkommen. Der Weg beginnt hinter zwei kleinen, unscheinbaren Toren. Uno liest von maroden Schildern ab. „Jerewan“ und „Baku“ stehen geschrieben. Er läuft zwischen den Toren vorbei, in den Waldabschnitt hinein. Links die Arganbäume, rechts die Aspen. Eine klare Grenze, denkt er sich. Doch je tiefer Uno in den Wald hineingerät, desto verwirrender wird das Pflanzengeflecht. Alles verschwimmt vor seinen Augen. Die Grenzen werden undefinierbar. Er weiß nicht mehr, wo er sich befindet. Nur die Aspen kann er identifizieren. Es gibt keinen Ausweg. Die Aspen versperren alle Wege. Orientierungslos findet er sich schlagartig vor einem Tor wieder. Ein sehr ramponiertes Tor. Uno fragt sich, wie es überhaupt möglich sei, dass es noch steht. „Stepanakert“ steht auf dem Schild geschrieben. Die Buchstaben bröckeln schon ab. Hinter dem Tor erspäht er eine Lichtung. Der Wald dahinter sieht anders aus. Auf dem Weg vor ihm liegt ein schlafender Bär. Er sieht die Lichtung. Der freie Weg ist voller Hindernisse. Kaum ist Uno umzingelt von Arganbäumen, spürt er ein Unbehagen. Hier herrscht Unheil, das war ihm schlagartig klar. Er erinnert sich an den Wald draußen. Grün und lebendig glänzte und schien dieser. Er sieht sich um. Grün ist es hier auch. Leben kann er hier ebenfalls entdecken. Doch hier glänzt nichts, hier scheint nichts. Uno erinnert sich, dass es der 19. September ist. Plötzlich fegt ein Wind durch den Wald. Schwarzer Hagel prasselt auf die Bäume nieder. Von einem Augenblick auf den anderen fließt all das Grün aus den Blättern. Sie werden gelb, kurz darauf orange und schließlich braun. Ein dunkles, giftiges, totes Braun. Kein Sonnenlicht erreicht nun mehr den Boden. Der Wald verwandelt sich in ein finsteres Grab. Uno kann nur dabei zusehen. Er fühlt sich wie gelähmt. Plötzlich fällt eine weiße Taube vor seine Füße. Sie ist tot. Uno schaut nach oben. Alles Leben ist verschwunden.
J.S.